Das Interview ist erstmals im Magazin twice der Handelskammer beider Basel erschienen.
Die Schweiz hat eine lange Migrationsgeschichte – was waren früher die Beweggründe, zu gehen und zu kommen?
Bis ungefähr 1890 führten vor allem Armut und fehlende Perspektiven in ländlichen Gegenden der Schweiz zu Abwanderung. In der zweiten Industrialisierungsphase bis zum Ersten Weltkrieg trugen die aufblühende Wirtschaft und die damit steigende Beschäftigung zu einem positiven Wanderungssaldo bei. Die Zwischenkriegszeit wiederum war von einer Nettoabwanderung geprägt. Es gingen vorwiegend Menschen, die in ihre Heimatländer zurückkehrten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Schweiz schliesslich fast dauerhaft auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen.
Was macht die Schweiz heute für Zuwanderung attraktiv?
Die Zuwanderung aus der EU und der EFTA ist praktisch vollständig auf das hohe Beschäftigungswachstum in der Schweiz zurückzuführen. Es ist aber nicht so, dass sie einfach kommen, sondern wir holen sie – die Unternehmen rekrutieren sie. Das fällt ihnen leicht, weil sie gute und lukrative Arbeitsplätze anbieten. Die Regel ist, dass die Zuwanderung mit der Konjunktur in der Schweiz steigt, und die Bereitschaft der Zuwanderer, hierherzukommen, hängt wiederum von der Konjunktur im Herkunftsland ab. Je besser also die Wirtschaft in der Schweiz im Vergleich zum Ausland läuft, umso höher ist der Bedarf nach Arbeitskräften und umso höher die Bereitschaft, hierherzukommen. Kommt hinzu, dass sich die Zugewanderten dank der Mehrsprachigkeit der Schweiz auch einfacher integrieren.
Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft?
Der Bevölkerungsanteil der über 50-Jährigen in der Schweiz ist in den letzten 30 bis 40 Jahren deutlich gestiegen. Dies ist hauptsächlich auf die steigende Lebenserwartung und die sinkende Geburtenrate zurückzuführen. Die Unternehmen in der Schweiz rekrutieren daher vor allem jüngere Personen, welche von der Altersstruktur her die Einheimischen fast schon perfekt ergänzen. Mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen kommen die Leute vor allem aus den umliegenden Ländern, also aus Deutschland, Italien oder Frankreich.
Müssen wir Angst vor Zuwanderung haben?
Angst würde ich nicht sagen. Aber es ist verständlich, dass eine so hohe Zuwanderung, wie wir sie aktuell erfahren, vor allem gesellschaftlich herausfordernd ist. Zudem wird in der Zuwanderungsdiskussion die Personenfreizügigkeit oft mit der Asylzuwanderung vermischt, die tatsächlich problematisch sein kann.
Welche Rolle spielt die Wirtschaft bei der Zuwanderung?
Die Wirtschaft und das Wirtschaftswachstum in der Schweiz sind die zentralen Treiber der Zuwanderung. Wichtig ist dabei die Nachfrage nach Arbeitskräften. Und es kommen natürlich oft auch die Ehepartner oder die Kinder mit – dies im Gegensatz zu früher unter dem Saisonnierstatut, wo der Familiennachzug nicht möglich war und zu unmenschlichen Zuständen geführt hat.
Nehmen uns Arbeitskräfte aus dem Ausland die Jobs weg?
Wir haben nun über 20 Jahre Erfahrung mit der Personenfreizügigkeit und können feststellen: Die Zugewanderten nehmen den Einheimischen die Arbeit nicht weg. Es findet keine Verdrängung von Einheimischen durch Zugewanderte statt. Wir haben vielmehr eine dauerhaft tiefe Arbeitslosigkeit und verdienen die wohl höchsten Löhne in Europa. Im Gegenteil, die Zugewanderten ergänzen uns und teilweise machen sie die Jobs, welche die Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr machen wollen.
Wie profitiert die gesamte Schweiz?
Der Wohlstand in der Schweiz ist zumindest im Vergleich zu Europa, ja vermutlich sogar weltweit, einzigartig hoch. Die Qualität und die Dichte der privaten und öffentlichen Dienstleistungen erfordern einen hohen Arbeitseinsatz, der aus der Schweiz heraus nicht gedeckt werden kann. Wir alle profitieren daher von den ausländischen Arbeitskräften, ganz direkt, etwa wenn wir ins Spital oder ins Altersheim gehen müssen. Indirekt indem die Zugewanderten auf dem Bau oder in der Industrie zur Wertschöpfung und zum Wohlstand in der Schweiz beitragen.
Könnte die Schweiz auf Zuwanderung verzichten?
Schon allein aus demografischen Gründen bleiben wir auch in Zukunft auf Zuwanderung angewiesen. In den nächsten Jahren scheiden die grossen Babyboomer-Kohorten aus dem Erwerbsleben aus und wir werden froh sein, wenn wir sie zumindest teilweise mit Zuwanderern ersetzen können.