Der bilaterale Weg steht auf dem Prüfstand, wieder einmal
Bilaterale Beziehungen mit einem pragmatischen Ansatz haben in der Schweiz eine lange Geschichte. Jetzt fordern neue institutionelle Regeln das Staats- und Demokratieverständnis heraus. Von Prof. Matthias Oesch, Professor für Europarecht an der Universität Zürich
Der Beitrag erschien erstmals in unserem Magazin Tribune.
Die Aussenpolitik der Schweiz beruhte nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Pfeilern der Souveränität, der Unabhängigkeit, der Neutralität und der handelspolitischen Autonomie. Ihre Exportwirtschaft profitierte von der starken Auslandnachfrage beim Wiederaufbau Europas. Die Schweiz war gut aufgestellt, ihren Wohlstand zu mehren. Entsprechend gering war ihre Bereitschaft, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen.
Die Schweiz fungierte 1948 zwar als Gründungsmitglied der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC, 1961 umgetauft in OECD). Eine Teilnahme an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) kam aber nicht infrage. Stattdessen engagierte sich die Schweiz 1960 bei der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Dem Europarat trat sie 1963 bei.
Freier Handel seit 50 Jahren
Die Schweiz und die EWG schlossen 1972 ein Freihandelsabkommen ab. Dieses Abkommen bildet seither die Grundlage des gegenseitigen Handels mit Industriegütern. 1992 stellten Volk und Stände die Weichen für die jüngere schweizerische Europapolitik: Sie lehnten den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab. Faute de mieux nahm die Schweiz die Tradition pragmatisch-bilateraler Beziehungen wieder auf.
1999 wurden die Bilateralen I abgeschlossen. Dabei handelt es sich um sieben Abkommen, welche vornehmlich den Marktzugang und die Personenfreizügigkeit zum Gegenstand haben. 2004 wurde das Paket der Bilateralen II geschnürt. Diese neun Abkommen gehen über den hauptsächlich wirtschaftlichen Rahmen der Bilateralen I hinaus und betreffen namentlich auch Justiz und Inneres, Visa und Asyl, Umwelt, Kultur und Bildung.
Neue institutionelle Regeln
Diese Abkommen sind als Antwort auf konkrete Bedürf?nisse und im Rahmen von Windows of opportunities entstanden. Sie bilden kein umfassendes, kohärentes System, beruhen institutionell auf klassisch völkerrechtlichen Grundsätzen und wurden als Übergangslösung konzipiert. Die EU ging davon aus, die Schweiz würde nach einer Angewöhnungszeit einen nochmaligen Anlauf für einen EWR- oder gar EU-Beitritt wagen. Diese Hoffnung erwies sich als illusorisch. Die Abkommen mutierten zu einem Provisoire qui dure.
Seit 2008 verlangt die EU von der Schweiz, neuen institutionellen Regeln zuzustimmen. Davon betroffen sind diejenigen Abkommen, mit denen die Schweiz am EU-Binnenmarkt teilhat. Ohne institutionelles Update ist die EU nicht bereit, die Abkommen weiter aufzudatieren (z. B. Medizintechnik, Diplomanerkennung), neue Marktzugangsabkommen abzuschliessen (z.B. Strom) und anderweitig der Schweiz entgegenzukommen (z.B. Börsenäquivalenz, Horizon Europe). Sie betrachtet den Status quo nicht als tragfähige Lösung für die Zukunft.
Am Scheideweg
Der Bundesrat und die Europäische Kommission schlagen nun vor, die Abkommen auf eine neue institutionelle Grundlage zu stellen und zusätzliche Abkommen abzuschliessen. Der damit einhergehende Integrationsschritt fordert das Staats- und Demokratieverständnis in der Schweiz heraus. Gleichzeitig ist das ausgehandelte Vertragspaket eine Voraussetzung für die Weiterführung des bilateralen Wegs. Andernfalls besteht die Gefahr, dass dieser Weg erodiert. Das wäre keine verlockende Perspektive – weder für die Schweiz noch für die EU.
Hier geht es zur Tribune «Die Bilateralen III auf der Zielgeraden»
Prof. Matthias Oesch ist seit 2013 Professor für Europarecht an der Universität Zürich. Zuvor war er u. a. beim Staatssekretariat SECO in Bern und bei Homburger in Zürich tätig.