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KOLUMNE

























                                                   WIR SOLLTEN

                                                      HANDELN



                                                            Von Dr. Jürg Müller



                  «Die natürliche Wirkung des Handels ist es, zum Frieden  aussen verordnen. Gerade in der Schweiz sollten wir
                  zu führen [... ], und alle Verbindungen beruhen auf gegen-  uns aufgrund der eigenen Geschichte der Bedeutung
                  seitigen Bedürfnissen.» Dem Aufklärer Montesquieu   solcher gesellschaftlicher Prozesse bewusst sein.
                  dürften heute die meisten kritischer als auch schon     Handel mag das Bedürfnis nach sozialen Veränderungen
                    gegenüberstehen. Spätestens seit dem Ausbruch des   wecken, letztlich müssen aber die Menschen vor Ort
                  Ukrainekrieges steht die Idee, dass durch wirtschaftliche  diesen Wandel gestalten.
                  Verflechtung auch andere Ziele wie Frieden erreicht
                  werden können, erheblich unter Druck.            Obwohl der freie Verkehr von Waren und Dienstleistun-
                                                                   gen nicht zwangsläufig sozialen Wandel und Frieden
                  Auf den ersten Blick erscheint das Konzept «Wandel   bringt, so ist eines doch klar: Neben den eher diffusen
                  durch Handel» überzeugend. Durch Handel geraten   politischen Einflüssen hat der Handel handfeste öko-
                  Staaten in eine gegenseitige Abhängigkeit, die künftige   nomische Effekte. Unbestritten sind die positiven Aus-
                  Konflikte zu kostspielig macht. Zudem profitieren von   wirkungen auf den Wohlstand. Der Anteil der Menschen,
                    einer internationalen Arbeitsteilung alle Beteiligten.   die in extremer Armut leben, ist im Zuge der sich ver-
                  Es kann sich eine Mittelschicht bilden, die zunehmend   tiefenden Globalisierung seit 1990 um fast 80 Prozent
                  politische Rechte einfordert.                    zurückgegangen.


                  Das Konzept erwies sich keinesfalls als Papiertiger.   Da beide Seiten vom Handel profitieren, fallen beid-
                  Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es etwa, Deutsch-  seitig positive Effekte an. Das gilt auch für die
                  land und Frankreich durch Handel und Investitionen eng   Schweiz. Die Bürgerinnen und Bürger einer kleinen,
                  miteinander zu verknüpfen. Doch die Erwartungen an   offenen Volkswirtschaft profitieren direkt vom
                  den Handel überstiegen regelmässig dessen Möglichkei-  Freihandel. Grade die Konsumentinnen und Konsu-
                  ten, soziale Veränderungen anzustossen – und immer   menten kommen dadurch in den Genuss einer höhe-
                  wieder wurde die Kritik laut, dass Handelsgewinne auch   ren Produktevielfalt und tieferer Preise. Letztlich
                  die Halbwertszeit autoritärer Regime verlängern könnten.  ist Handel als freiwilliger Austausch über Grenzen
                                                                     hinweg naturgemäss mehr als ein Nullsummenspiel –
                  Mit Handel allein ist es also nicht getan. Am Ende lassen   Montesquieu hatte zumindest mit dem zweiten Teil
                  sich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nur schwer von  seiner  Einschätzung vollkommen recht.


                                                                            DR. JÜRG MÜLLER ist Direktor von Avenir Suisse, einem
                                                                             Think-Tank für marktwirtschaftliche, liberale und wissen-
                                                                              schaftlich fundierte Ideen für die Zukunft der Schweiz.







                                                                                                           twice  Frühjahr 2024    11
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