AHV-Reform: «Höchste Zeit für diesen Schritt»

18.08.2022

Am 25. September 2022 stimmt die Schweizer Bevölkerung über die Stabilisierung der AHV (AHV 21) ab. Prof. Dr. Heinz Zimmermann, Ordinarius für Finanzmarkttheorie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, erläutert, wieso die AHV dringende Reformen braucht.

Herr Zimmermann, ist für Sie die Abstimmung über die Stabilisierung der AHV ein Schritt in die richtige Richtung?

Ja, das ist er, und es ist höchste Zeit dafür. Die Annahmen, die der AHV zu Grunde liegen, sind völlig veraltet. Als die AHV 1948 eingeführt wurde, unterstützten fünf arbeitende Personen eine Rentnerin oder einen Rentner. Heute braucht es für eine pensionierte Person drei Arbeitstätige. Laut Prognosen werden es 2045 bereits nur zwei arbeitende Personen sein. Wir sind in einer riesigen demographischen Transformation, die Gesellschaft altert. Die kommende Abstimmung ist ein erster Schritt, aber sicherlich nicht der letzte, der zur Sicherung der AHV beitragen muss. In ein paar Jahren erwarten uns Milliardendefizite, wenn nichts unternommen wird. Bei einem Ja am 25. September werden bis im Jahr 2034 neun Milliarden Franken eingespart. Rund drei Milliarden Franken davon gehen zurück an die Frauen, weil sie dann ein Jahr mehr arbeiten müssen, und das ist sozialpolitisch nachvollziehbar. Zudem erfolgt die Umsetzung nicht von heute auf morgen, sie erstreckt sich über vier Jahre.

Welche weiteren Reformen für eine generationengerechte Altersvorsorge schlagen Sie vor?

Das Rentenalter müsste sicherlich noch mehr erhöht werden, um sich an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Ich bin ein Befürworter der Renteninitiative. Dabei geht es um eine sehr moderate Anpassung, die automatisch an die Lebenserwartung gekoppelt und damit entpolitisiert würde. Zuerst auf 66 Jahre und dann sukzessive bis 2050 auf rund 68 Jahre. Bei Reformen des Rentensystems wird übrigens häufig die 2. Säule vergessen, sie basiert ebenso auf veralteten Annahmen hinsichtlich Demographie und Kapitalmarkt. So ist beispielsweise der Umwandlungssatz im obligatorischen Bereich immer noch viel zu hoch, was vor allem durch eine Umverteilung von Jung zu Alt oder aus dem überobligatorischen Bereich heraus ermöglicht wird. Diese Vorgänge sind aber für die Bevölkerung nicht so transparent wie bei der AHV und schwer verständlich. Deshalb bin ich bei der 2. Säule pessimistisch, dass sie reformiert werden kann. Meine Hoffnung ruht auf der Eigenverantwortung der Leute und auf der 3. Säule, dass ihre Möglichkeiten ausgeschöpft und erweitert werden. Ihre Bedeutung nimmt zu, da es bei den Arbeitstätigen immer mehr Selbstständigerwerbende hat, die nicht an eine Pensionskasse angeschlossen sind. Die Berufsprofile entwickeln sich immer mehr in diese Richtung. Das ist sicherlich auch ein Thema für Wirtschaftsverbände.

Prof. Dr. Heinz Zimmermann Für Prof. Dr. Heinz Zimmermann gehören sozialpolitische Themen über die aktuelle AHV-Reform hinaus auf die permanente Agenda der nationalen Politik.

Wieso ist das heutige System in einer Schieflage?

Die 1. Säule ist in einer Schieflage wegen der demographischen Entwicklung. Bei der 2. Säule sind die langfristigen Annahmen über Kapitalmärkte und die Renditeannahmen nicht realistisch, vor allem, was die mit Sicherheit langfristig erreichbaren Verzinsungen betrifft. Einen wesentlichen Pfeiler des Rentensystems bilden schliesslich die Annahmen über das Wirtschaftswachstum. Aktuell sehen wir aber, wie sehr dieses Wachstum von ausländischen Faktoren abhängt, die wir nicht beeinflussen können.

Weshalb ist die nachhaltige Finanzierung der Altersvorsorge so zentral?

Die Grundannahme der AHV besteht darin, dass man in jungen Jahren zu wenig an das eigene Alter denkt. Unter dieser Annahme stellt die AHV mit dem Generationenvertrag die wichtigste soziale Errungenschaft der Schweiz dar. Wenn ich als Berufstätiger Rentnerinnen und Rentner unterstütze, habe ich im Alter auch Anspruch auf die gleiche Leistung. Bei der 2. Säule ist dies ganz anders: Da spare ich mein eigenes Kapital und bin nicht von anderen abhängig. Zumindest scheint dies so, denn auch die 2. Säule hat ein kollektives Element, da alle miteinander in den Pensionskassen sparen. Bei einer stark alternden Gesellschaft kann auf diese Weise ein für die Gesellschaft zu hoher Kapitalstock angespart werden. So lässt sich die 2. Säule nicht beliebig ausbauen. Dies zeigt sich darin, dass viele Pensionskassen gar nicht mehr wissen, wo sie ihr Kapital mit der erwarteten Sicherheit rentabel investieren können.

Haben wir denn in der Schweiz genug Arbeitsplätze, um Menschen über 65 beschäftigen zu können?

Das ist eine zentrale Frage. Heute haben wir nicht das Gefühl, dass es genug Arbeit hat. Es gibt aktuell in der Schweiz aber kaum Institutionen, die sich darum kümmern, dass Ältere im Berufsleben bleiben oder integriert werden können. Es braucht sicherlich spezialisierte Stellenvermittlungsinstitutionen für ältere Menschen. In einigen Jobs gibt es zudem hohe institutionelle Barrieren, zum Beispiel in der Altenpflege oder in der Kinderbetreuung. Ich habe Verständnis dafür, dass es gute Ausbildungen braucht. Aber wir sollten unser Anspruchsniveau überdenken. Es ist vielleicht nicht für alle Tätigkeiten ein Masterabschluss nötig.

Nicht alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Bürojobs. Sollen auch Menschen, die körperlich schwere Berufe ausüben, länger arbeiten?

Ich bringe gern ein Beispiel aus dem Ausland: das Konzept der «Lebensarbeitszeit». Jeder Mensch müsste eine bestimmte Anzahl Jahre bis zur Pensionierung arbeiten. Personen, die physisch anstrengende Berufe haben, müssten weniger lange bis zur Pensionierung arbeiten als Menschen, die einen akademischen Beruf haben. Ich kenne viele Menschen in meinem Umfeld, die gern über das Pensionsalter hinaus arbeiten würden. Fixe Pensionszeiten sind heute unzeitgemäss, mir geht es um eine Flexibilisierung des Rentenalters für diejenigen, die dies können und wollen. Bei der Abstimmung am 25. September geht es in die richtige Richtung, weil der Rentenbezug bis 70 Jahre flexibilisiert wird.

Was sind die Alternativen zu einer Erhöhung des Rentenalters?

Mit der Lebensarbeitszeit könnte man ein fixes Rentenalter abschaffen, das wäre eine Alternative. Es braucht aber ein bestimmtes Rentenalter wegen der 2. Säule. Wenn das Pensionsalter nicht erhöht wird, muss die Gesellschaft ihre Ansprüche runterschrauben oder mehr in die AHV einzahlen. Die AHV wird von drei Grössen bestimmt: vom Rentenalter, von den Rentenansprüchen und von der Finanzierung. Passt man eine Grösse nicht an, muss man an den anderen zwei drehen. Ohne Reform gehen die AHV-Beiträge oder Steuern unweigerlich hoch.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Generationengerechtigkeit in der Altersvorsorge wieder hergestellt werden kann?

In den letzten Jahren wurden sozialpolitische Themen in der Politik gemieden, doch die Probleme der AHV werden glücklicherweise recht schnell offensichtlich. Bei der 1. Säule zahlen jetzige junge Generationen für aktuelle Rentnerinnen und Rentner. Wenn die demographische Entwicklung so weitergeht und es immer mehr ältere Menschen gibt, gibt es keine Alternative zum länger Arbeiten. Das verlangt der Generationenvertrag. Länger arbeiten tönt abschreckend, aber die heutigen Vorschläge sind sehr moderat und reichen für die nächsten zehn Jahre. Bei der 2. Säule heisst für mich Generationengerechtigkeit, dass heute und zukünftig keine Renten versprochen werden, die man über den Kapitalmarkt nicht finanzieren kann. Die Zielsetzungen für die 2. Säule sollten bescheidener formuliert werden; die Beibehaltung des gewohnten Lebensstandards im Rentenalter lässt sich durch Kapitalmarktanlagen nicht garantieren, wie heute suggeriert wird, und ist im Unterschied zur Stabilisierung der AHV auch nicht Teil der Sozialpolitik. Sozialpolitische Themen gehören über die aktuelle AHV-Reform hinaus auf die permanente Agenda der nationalen Politik.

Der Beitrag erscheint im Rahmen unserer Reihe «Wissen schafft Wirtschaft» in Kooperation mit der Universität Basel. 

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