«Trends sind nicht allmächtig»

25.06.2019

Wie sich zeigt, zeichnet sich in der Gesundheits- und Pharmaindustrie eine Zeitenwende ab. Während Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln und Diagnostika bisher das Geschäft von etablierten und fokussierten Life Sciences-Unternehmen waren, scheinen zunehmend auch Technologiekonzerne diesen Bereich für sich zu entdecken. Professor Martin Lengwiler über die Zukunft des Gesundheitswesens.

Wie ist es um die Forschung in unserer Region bestellt?

Prof. Martin Lengwiler: Sehr gut. Wir sind kompetitiv in der Forschung und kompetitiv in der Innovation. Die Region Basel ist nach wie vor ein weltweit führender Life Sciences-Standort.

Welche Auswirkungen hat es, wenn Technologiekonzerne die Life Sciences zunehmend für sich entdecken?

Das Kerngeschäft der hier ansässigen Pharmabranche ist die Medikamentenentwicklung und -herstellung. Und da können branchenfremde Unternehmen wie Technologiekonzerne schwer mithalten. Informationstechnologien haben zwar einen grossen Einfluss auf die Bereiche Forschung und Diagnostik. Aber die Herstellung und Entwicklung von Medikamenten ist ein langwieriges und komplexes Geschäft, in dem die Pharmabranche schwer zu konkurrenzieren ist. Zudem hat die Pharmabranche bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass sie sehr anpassungsfähig ist und neue Trends frühzeitig erkennt. Man denke dabei an die 80er-Jahre, als die Gentechnologie die Biomedizin revolutionierte. Die Pharmaunternehmen haben sich in diesem Markt gut positioniert, oft durch Zukäufe oder Kooperationen mit innovativen Firmen. Heute ist die Gentechnologie eine Routineanwendung und Grundlage vieler Forschungsgebiete der Life Sciences.

Immer wieder ist von Big Data die Rede im Gesundheitswesen.

Big-Data-Anwendungen nehmen in der Forschung und Diagnostik in der Tat vor allem bei komplexen Krankheitsursachen wie chronischen Krankheiten eine immer wichtigere Rolle ein. Calico, ein Tochterunternehmen von Google, ist ein typisches Beispiel dafür, wie sich die Gesundheitsindustrie Big Data zunutze macht. Mit Computerpower will das Unternehmen Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer erforschen und stoppen und das menschliche Leben um Jahrzehnte verlängern.

Wandelt sich damit die Gesundheitsindustrie?

Teilweise sicher. Aber diese Veränderungen zeichnen sich bereits seit längerem in der Gesundheitsindustrie ab. Die sogenannte «informationsgestützte Selbstmedikation» nimmt einen immer grösseren Stellenwert ein. Das heisst, Patientinnen und Patienten sind nicht mehr länger passive Konsumenten medizinischer Leistungen. Sie entwickeln sich mehr und mehr zu aktiven, informierten und verantwortlichen Teilnehmern in der Gesundheitsversorgung. Bereits heute haben wir unzählige Möglichkeiten, uns zu informieren und der Trend von Healthcare-Apps ist ungebrochen. Daneben gibt es eine Flut von sogenannten Wearables, also kleinen Geräten, die man am Körper trägt und die mehr oder weniger wichtige Funktionen des Trägers aufzeichnen.

Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel?

Ich wäre vorsichtig mit solchen grossen Begriffen. Wirtschaftliche Umbrüche verlaufen oft in kleinen Einzelschritten über viele Stufen hinweg. Die De Industrialisierung bedeutet in vielem eine stärkere Verschränkung von Industrie und Informationstechnologien. Das wird Auswirkungen auf die Beschäftigungen und die notwendigen Qualifikationen haben. Technologieorientierte Branchen werden mehr expandieren, andere Sektoren wie beispielsweise der Bankensektor haben in letzter Zeit stellenmässig abgebaut. Das dürfte auch weiterhin so bleiben.

Wird der Industriesektor verdrängt?

Das denke ich nicht. Die Tertiarisierung hat bereits gezeigt, dass der Industriesektor nicht verdrängt wurde. Seit rund 15 Jahren sind 20 Prozent der Beschäftigten in der Industrie und im Gewerbe tätig. Und auch der klassische Industriebereich - Produktion und Verarbeitung- ist in den letzten zehn Jahren beschäftigungsmässig stabil geblieben. Europa ist als Industriestandort mit der Autoindustrie, Zugherstellung oder Flugzeugindustrie nach wie vor gut aufgestellt.

Was braucht es, damit dies weiterhin so bleibt?

Durch eine kluge Wirtschaftspolitik lässt sich die De-Industrialisierung steuern. Trends sind nicht allmächtig. Sie lassen sich auch politisch beeinflussen. Dies zeigte sich schon in der Vergangenheit: Während Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren in Grossbritannien die De-Industrialisierung vorantrieb, indem sie den Finanzsektor stärkte und die Industrie weitgehend vernachlässigte, hat Deutschland die Industrie strategisch gefördert und ist heute eine exportstarke Industrienation.

Prof. Martin Lengwiler ist Ordinarius für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel.

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