«Bundesrat kann nicht mit der Polizeinotverordnung die Verfassung ändern»

05.06.2020

Seit dem 16. März befindet sich die Schweiz in der ausserordentlichen Lage, die noch bis 19. Juni andauert. Elisabeth Schneider-Schneiter, CVP-Nationalrätin und Präsidentin der Handelskammer beider Basel, traf sich zum Gespräch mit Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, und diskutierte mit ihm über das Notrecht. Luca Urgese, Leiter Finanzen und Steuern bei der Handelskammer beider Basel, moderierte das Gespräch.

Notrecht

Luca Urgese, Herr Schefer, in Medien und in der Bevölkerung ist derzeit viel die Rede von Notrecht. Was bedeutet der Begriff Notrecht juristisch?

Prof. Markus Schefer: Den Begriff Notrecht würde ich reservieren für Situationen, die wir während dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg erlebten, als das Parlament von sich aus ohne Verfassungsgrundlage dem Bundesrat für Jahre weitgehende Vollmachten erteilte. Wir haben jetzt keine Situation, die vergleichbar ist mit den Weltkriegen. Wir haben nach wie vor den Anspruch, innerhalb der Verfassung zu agieren. Und es ist wichtig, dass wir diesen Anspruch weiterhin beibehalten. Der Bundesrat hat begründet, warum er die Frist für Unterschriftensammlungen bei Volksinitiativen und Referenden nicht noch weiter vertagt, mit dem Argument: Wir Bundesräte können nicht von der Bundesverfassung abweichen. Das war für mich eine sehr wohltuende Information. Die Verfassung selbst hat Bestimmungen, die dem Bundesrat die Kompetenz erteilen, in Notsituationen gestützt auf die Bundesverfassung und im Rahmen der Bundesverfassung Verordnungen zu erlassen, die sonst nur mit Bundesgesetzen möglich wären.

LU: Frau Schneider-Schneiter, der Bundesrat hat in dieser ausserordentlichen Lage den Lead übernommen. War das aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Elisabeth Schneider-Schneiter: Der Bundesrat musste in dieser Situation handeln, da er als Exekutive die Verantwortung hat. Er hat sich bei den gesundheitlichen Fragen auf Expertenmeinungen gestützt und hat dann Notverordnungsrecht angeordnet. Er hat das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben praktisch gelähmt, und es ist logisch, dass er jetzt ebenfalls mit Notverordnungsrecht möglichst schnell und pragmatisch der Wirtschaft dabei hilft, sich zu erholen. Der Bundesrat hat kurzfristig richtig gehandelt. Wichtig ist, dass die übrigen demokratisch legitimierten Institutionen ihre Aufsichtsfunktion wahrnehmen und ihre demokratischen Pflichten ausüben.

MS: Der Bundesrat hat den verfassungsrechtlichen Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft in ihrem Sicherheitsbedürfnis geschützt wird und dass die öffentliche Ordnung nicht zusammenbricht. Von dieser Funktion musste er Gebrauch machen und das tat er auch. Eine andere Frage ist, ob der Bundesrat letztlich die Verfassungsgrundlage hatte, die er gebraucht hätte, um alle diese Massnahmen zu ergreifen. Dort sehe ich dann eher ein Problem. Die Solidarbürgschaftsverordnung ist eine Polizeinotverordnung des Bundesrats. In ordentlichen Situationen hätte es dafür ein Bundesgesetz mit einem Parlamentsbeschluss und Referendumsmöglichkeit benötigt.

LU: Das ist sicher eine Frage, die dann in der Nachbereitung noch intensiv angeschaut werden muss.

MS: Ich denke, wir müssen aus diesen Erfahrungen lernen. Wir hatten insgesamt über 35 Erlasse auf Bundesebene. Wir müssen schauen, wie die Verfassungsordnung geändert werden muss, um eine gute Grundlage zu haben, falls eine solche Situation wieder eintrifft.

LU: Es gab viele Verordnungen, die jeweils auf sechs Monate befristet sind. Wenn so eine ausserordentliche Situation länger andauert, kann der Bundesrat diese Verordnungen einfach beliebig verlängern?

MS: Nein, das kann er nicht. Die sechsmonatige Befristung hat man nach der Finanzkrise in das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz aufgenommen. Damals war das ausreichend. Doch jetzt sind wir in einer Situation, in der die verfassungsrechtliche Grundlage nicht mehr richtig passt. Jetzt können wir daraus lernen und schauen, was wir anpassen müssen.

ESS: Konkret sieht es so aus, dass wenn die Notverordnungen weitergezogen werden müssen und die Sechsmonatsfrist abgelaufen ist, es eine Überführungsgesetzgebung gibt, in der in einem demokratischen Prozess mit den Kommissionen und dem Parlament die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden.

Rolle des Parlaments

LU: Langsam kommt das Parlament zurück ins Spiel und muss vieles nachträglich gutheissen und in die ordentliche Gesetzgebung überführen. Was muss in so einer Krisensituation die Rolle des Parlaments sein?

ESS: Das Parlament hat die Aufsicht über die Exekutive. Und wenn man sagt, das Parlament soll sich nicht einmischen und nicht debattieren, dann verbietet man ja eigentlich dem Parlament seine Kernkompetenz. Es ist schwierig, solche Notbestimmungen parlamentarisch zu begleiten und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das war schon der Fall, als wir die nötigen Notkredite gesprochen haben von fast 60 Milliarden Franken – für einen Parlamentarier, der zwei Monate praktisch ausser Kraft gesetzt war, war es sehr schwierig, sich in die Details einzuarbeiten. Ich bin dem Parlament gegenüber sehr kritisch. Es hat seine Pflichten nicht erfüllt und sich zu früh und zu schnell aus dem Spiel genommen. Man hätte Instrumente bereitstellen müssen, die uns ermöglichen würden, trotz allem zu funktionieren. Die Kommissionen hätten den Bundesrat begleiten und ihm den Rücken stützen müssen. So steigt natürlich die Macht der Verwaltung, die man ja sonst schon spürt in allen Bereichen des politischen Lebens.

MS: MS: Wir müssen sicherstellen, dass der Bundesrat über einen längeren Zeitraum nicht alleine agiert. Vielleicht muss man sich auch überlegen, ein ständiges Organ der Bundesversammlung zu schaffen, das in solchen Situationen eine wirksame Genehmigungskompetenz wahrnehmen kann.

ESS: Vor rund zehn Jahren initiierte die staatspolitische Kommission des Nationalrats eine parlamentarische Initiative, um das Parlament in ausserordentlichen Lagen mehr miteinzubeziehen. Und im ersten Entwurf war genau eine solche Kommission vorgesehen, eine ständige Kommission für ausserordentliche Lagen. Diese Kommission wurde dann vom Bundesrat abgelehnt. Kürzlich wurden wieder Vorstösse in diese Richtung eingereicht, und ich denke, dass so eine Kommission nun geschaffen wird. Da müssen die politische Ebene und auch die föderalistische Ebene möglichst breit abgebildet sein. Es geht nicht darum, den Bundesrat zu kritisieren, sondern darum, das Volk zu vertreten und die demokratischen Aufgaben wahrzunehmen.

Prof. Markus Schefer und Elisabeth Schneider-Schneiter diskutieren über das Notrecht.
Rolle der Justiz

MS: Und das führt zu einer weiteren Frage, zur Rolle der Justiz in solchen Situationen. Wir müssen uns überlegen, welche Funktion der Justiz in einer Konstellation zukommt, in welcher der Bundesrat auf einmal viel mehr Kompetenzen besitzt als normal. Unsere Justiz ist gegenüber dem Bundesrat in vielen Bereichen eher zurückhaltend. Diese Krise wäre auch ein Anlass, darüber nachzudenken, wie wir die Justiz auf Bundesebene generell stärken.

LU: Sie sprechen die Justiz an. Der Bundesrat hat Verordnungen erlassen; Verstösse werden mit Bussen sanktioniert. Diese Bussen sind unter Juristen nicht unumstritten. Sind solche Bussen Ihrer Meinung nach rechtens, Herr Schefer?

MS: Aus meiner Sicht müssen diejenigen Strafbestimmungen zulässig sein, die nötig sind, um die Massnahmen durchzusetzen, die der Bundesrat beschliesst. Grundsätzlich nimmt eine Polizeinotverordnung des Bundesrats die Stellung eines Bundesgesetzes ein. Eine andere Frage in diesem Zusammenhang ist, ob der Bundesrat mit einer Polizeinotverordnung Bundesgesetze ändern darf. Einige meiner Kollegen sagen nein, andere sagen ja. Der Bundesrat hat es gemacht, in dem er beispielsweise den Fristenstillstand im Zivilprozessrecht beschloss. Ich denke, die Grenze liegt sicher bei der Verfassung; der Bundesrat kann nicht mit der Polizeinotverordnung die Verfassung ändern.

ESS: Ich glaube, es wird schwierig, die Massnahmen und ihre Verhältnismässigkeit gerichtlich zu beurteilen. Ob es wirklich verhältnismässig war, dass nun beispielsweise ein Coiffeurladen schliessen musste. Oder wieso musste ein Buchladen schliessen und ein Grossverteiler nicht?

MS: Die gerichtliche Überprüfung von Polizeinotverordnungen ist eine Möglichkeit, die wir im Anwendungsfall heute schon haben. Selbstverständlich ist das anspruchsvoll. Und jedes Gericht wird in einer solchen Situation nicht einfach die eigene Wertung anstelle derjenigen des Bundesrates oder des Regierungsrates stellen, ohne dass es eine solide Grundlage dafür hat. Aber nehmen Sie die Situation, die wir provisorisch hatten: Grossverteiler sollten gewisse Produkte verkaufen, die Kleine nicht verkaufen durften. Davon ist man ja dann wieder abgekommen, als es Proteste gab. Das wäre etwas gewesen, wo durchaus ein Gericht in der Lage gewesen wäre, die Gleichbehandlung von direkten Konkurrenten gestützt auf die Wirtschaftsfreiheit zu beurteilen. Oder die Situation, die wir lange hatten, als die Menschen sich zwar zu fünft aufhalten durften, aber sobald sie ein politisches Plakat hielten, nicht mehr – das kann ein Gericht beurteilen. Bei solchen Massnahmen auf Bundesebene benötigen Sie auch ein Gericht, das die Autorität und die Gewohnheit hat, den Bundesrat in die Schranken zu weisen.

LU: Ist das ein Plädoyer für die Ausweitung der Kompetenzen des Bundesgerichts?

MS: Eine Ausweitung der Kompetenz des Bundesgerichts bedingt eine Änderung im Wahlverfahren. Sie können nicht die Kompetenzen ausweiten und gleichzeitig die Bundesrichterinnen und Bundesrichter alle sechs Jahre von der Bundesversammlung wählen lassen.

ESS: Sehen Sie eine Notwendigkeit in der Ausweitung der Justiz auch auf kantonaler Ebene?

MS: Das ist eine der Hausaufgaben, die wir nun aus dieser Krise mitnehmen können, auf kantonaler Ebene und auf Bundesebene zu schauen, ob die Verfahren, die wir haben, reichen und die Gerichte so ausgestattet sind, dass sie in solchen Situationen ihre wichtige Funktion wahrnehmen können.

Ausblick

LU: Wie lange wird es noch dauern, bis juristisch alles wieder im Normalbetrieb ist und ins ordentliche Recht überführt ist?

MS: Juristisch sind wir im Normalbetrieb. Polizeinotverordnungsrecht ist Normalbetrieb in ausserordentlichen Situationen. Aber es dauert lange, bis wir im ordentlichen Rechtssetzungsverfahren genügend schnell auf Situationen reagieren können. Und solange dies nicht möglich ist, benötigt es unter Umständen einen Bundesrat, der gestützt auf seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen eine Polizeinotverordnung verabschiedet.

ESS: Für mich ist wichtig, dass wir vor allem im parlamentarischen Prozess Strukturen angehen, also auch ganz praktische Themen wie die Digitalisierung der Sessionen und der Bundesverwaltung, aber auch funktionierende Statistiken im Gesundheitsbereich und internationale Vereinbarungen, um im Fall einer Pandemie schnell grenzüberschreitend handeln zu können. Wir haben schon sehr viel gelernt bei diesen Themen, und da müssen wir jetzt weiterkommen.

MS: Wir werden gewiss bei der nächsten Krise merken, dass wir etwas anderes vergessen haben.

ESS: Genau so wird es dann wohl sein.

LU: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Kommentare

Es wurden noch keine Kommentare verfasst.

Member.HUB