Antibiotika sind Opfer ihres eigenen Erfolges

02.06.2022

Trotz der weltweiten Zunahme von resistenten Erregern sind in den letzten Jahrzehnten kaum neue Antibiotika auf den Markt gekommen. Marc Gitzinger, CEO des Basler Start-ups BioVersys, fordert neue Vergütungsmodelle für Antibiotika.

Herr Gitzinger, Ihr Unternehmen hat sich dem Kampf gegen die antimikrobielle Resistenz verschrieben und entwickelt neue Antibiotika. Weshalb spricht man bei Antibiotikaresistenzen von einer «stillen Pandemie»?

Es handelt sich dabei um ein grosses medizinisches Problem, das immer noch unterschätzt wird. Die meisten glauben, dass Antibiotikaresistenzen nur wegen der übermässigen Anwendung von Antibiotika entstehen. Bakterien werden aber in der Regel immer resistent, weil ihr Ziel das Überleben ist. Eine neue Studie hat gezeigt, dass wir das wirkliche Ausmass bisher um die Hälfte unterschätzt haben: 2019 sind 1,3 Millionen Menschen an und über 5 Millionen im Zusammenhang mit einer antibiotikaresistenten Infektion gestorben. Das ist mehr als bei Tuberkulose, HIV und Malaria zusammen. Der Bedarf an neuen Antibiotika ist riesig. Ein Kaiserschnitt, eine neue Hüfte, eine simple Infektion bis hin zu Krebstherapie und Knochenmarkstransplantationen – das alles wäre unmöglich ohne Zugang zu Antibiotika. Die Covid-Krise hat gezeigt, wie schlimm es sein kann, wenn man keine wirksame Mittel gegen eine Infektionskrankheit bereit hat. 2019 hätte niemand für ein Covid-Medikament gezahlt, schon im April 2020 war es zu spät. Bei resistenten Bakterien ist es ähnlich. Heute haben wir in der Schweiz zwar steigende Todesfälle durch Resistenzen, aber noch nicht «genug» um ganz oben auf dem Radarschirm zu sein. Es ist eine stetig wachsende Bedrohung, die so lange unter dem Radar bleibt, bis es zu spät ist, daher stille Pandemie.

Wieso ist denn die Antibiotika-Entwicklung nicht so im Trend wie andere Bereiche?

Die Vergütung auf dem Markt ist problematisch. Antibiotika sind Opfer ihres eigenen Erfolgs: Sie werden nur kurze Zeit genommen. Es lässt sich also nicht so lange damit Geld verdienen, im Gegensatz zu einer chronischen Erkrankung. Zudem gibt es viele Generika, die sehr günstig sind. Auch das hat Einfluss auf die übermässige Verwendung. Die Antibiotikaforschung hat jedoch dieselben wissenschaftlichen und entwicklungstechnologischen Herausforderungen zu meistern wie andere Forschungsbereiche. Ein neues Antibiotikum zu entwickeln, kostet gleich viel wie jedes andere Medikament auch. Es werden zwar neue Antibiotika auf den Markt gebracht, aber sie gelten sinnvollerweise als Reserve, die nur dann verwendet wird, wenn ein Patient oder eine Patientin eine echte resistente Infektion hat.

Wie gehen die forschenden Unternehmen mit diesen Herausforderungen um?

Die Gesetze des Marktes reichen nicht aus, um dies zu regeln, bevor es zu spät ist. Heute kostet eine Packung Basler Läckerli mehr als ein lebensrettendes Antibiotikum, das auf der Intensivstation zur Behandlung einer tödlichen Infektion verwendet wird. Der Staat muss eingreifen und eine Leitplanke für den Umgang mit dem Gut Antibiotika zu setzen. Unser Gesundheitssystem ist ein Sozialsystem, welches danach verlangt. Jeder soll Zugang zu einem wirksamen Antibiotikum haben, aber gerade die neuen sollen verantwortungsvoll verwendet werden, also nicht in Massen. Daher muss die Vergütung vom Verkaufsvolumen entkoppelt werden. Neben meiner Tätigkeit bei BioVersys bin ich auch noch Präsident der BEAM Alliance (Biotech companies from Europe innovating in Anti-Microbial resistance research). In dieser Organisation sind 60 KMU aus Europa und Israel vertreten, die Antibiotika entwickeln. Wir setzen uns seit Jahren vor allem auf EU-Ebene dafür ein, dass die Vergütungsmodelle für neue Antibiotika verändert werden.

Herr Gitzinger im Interview Herr Gitzinger im Interview

Wo sehen Sie die Lösung?

In den letzten Jahren wurde viel an Lösungen gearbeitet und das Bewusstsein für die Problematik ist in zahlreichen Ländern vorhanden, auch auf Regierungsebene. Es gibt aktuell sehr gut dokumentierte Modelle, die vorgeschlagen werden, die man «Netflix-Modelle» nennt. Das bedeutet, dass die Staaten sich einen Zugang zu einem neuen Antibiotikum kaufen und sich die Entwicklungskosten so verteilen. Der Preis hängt dann nicht mehr vom Volumen, sondern vom Mehrwert für die Gesellschaft ab.

Von welchen Kosten sprechen wir da?

Weltweit müssten Länder mit rund drei Milliarden Franken für so ein Antibiotikum aufkommen. Das klingt nach wahnsinnig viel, ist aber wenig. Wenn sich die G20-Länder diese Kosten aufteilen würden, wären es umgerechnet fünf Franken pro Kopf pro Jahr für bis zu drei neue Antibiotika, die jedes Jahr entwickelt würden. Damit wäre sichergestellt, dass nachhaltig ein wirksames Antibiotikum vorhanden ist, wenn es gebraucht wird, auch in Ländern, die sich solche Vergütungssysteme nicht leisten können. Dies ist nicht nur Theorie. In Grossbritannien zum Beispiel wurde dieses Modell getestet, für wirksam befunden und jetzt wird es für alle zukünftigen Antibiotika implementiert. Auch in den USA und in Europa gibt es entsprechende Pläne.

Wie sieht es in der Schweiz aus?

Die Schweiz ist ganz weit vorne in der Antibiotikaforschung. Die Universität Basel zum Beispiel ist federführend beim Nationalen Forschungsschwerpunkt «Neue Ansätze zur Bekämpfung Antibiotika-resistenter Bakterien» (NFS AntiResist). Auch grosse Unternehmen wie Basilea Pharmaceutica und Roche sind neben BioVersys in der Antibiotikaforschung aktiv. Wir haben es nicht verschlafen zu erkennen, dass die Pandemie da ist, und wir sind top in der Innovation. Leider aber schläft der Bundesrat. Regional und national gibt es viele Politikerinnen und Politiker, die das Thema verstehen und Motionen eingereicht haben, die verlangen, dass man sich international an der Thematik der Vergütung beteiligen muss. Auf höhere Ebene werden diese Rufe aber nicht gehört. Das ist sehr schade. Ich denke aber, dass die Schweiz sich diesem Thema irgendwann nicht mehr entziehen kann und sich aufgrund der Nähe zur EU am ehesten an sie anpassen wird. Es ist in meinen Augen schade, dass die Schweiz in der Forschung und Entwicklung weltweit führend ist, sich aber bei den politischen Bemühungen für eine adäquate und nachhaltige Vergütung gar nicht engagiert.

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Donnerstag, 30. Juni 2022, 18.00 - 20.30 Uhr

Auditorium U1.131, Biozentrum, Spitalstrasse 41, Basel

Anmeldung und weitere Infos finden Sie hier.

 

 

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